Ohrenzeugen gesucht!

Der Geräuschflüchtling

Über den Komponisten Luigi Nono haben sich schon viele kluge Leute ihre Köpfe zerbrochen. Grob gesagt wird sein Schaffen in drei Phasen unterteilt. Zunächst der junge Komponist, der in Darmstadt der 5oer Jahre für Aufsehen sorgt, weil er einige Grundregeln der serriellen Kompositionsweise, das Oktavierungsverbot, das Wiederholungsverbot, ignoriert, seinem elegischen Ausdruckswillen unterordnet. Sodann die lange Periode politisch motivierter Werke, die sich solidarisch erklären mit der Arbeiterklasse, den Opfern des Krieges, des Faschismus, der
Ungerechtigkeit - und schließlich bis zu seinem Tod am 8. Mai 1990 die scheinbar unpolitische, poetische Phase, mit sehr stillen, meditativen Kompositionen, die im Zeitlupentempo sich kaum von der Stelle bewegen, durchsetzt von ewigwährenden Pausen.
Was diese klugen Köpfe an Wissenswertem zu Tage gefördert haben, wie das Spätwerk Nonos sein Frühwerk in einem anderem Licht erscheinen läßt, und warum die ernüchternde Langsamkeit, der Klang der Stille seiner letzten Kompositionen keineswegs als Abkehr vom politischen Engagement der 60er und 70er Jahre zu verstehen sind, im Gegenteil, sogar als dessen Radikalisierung, das soll uns in dieser Sendung nicht beschäftigen, höchstens nur am Rande.

Prof. Jaeggi:
J: Sie müssen immer wieder einblenden, und sagen, ich verstehe nichts davon. (lacht)

Nicht die Frage, was sich Luigi Nono mit seinen Werken gedacht hat, in welchen ästhetischen Traditionen er steht, welche Bedeutung ihm in der europäischen Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts beigemessen wird, und auch nicht die Frage soll uns diesmal interessieren, warum welche Interpreten welche Fermaten, welche Bogenstrichtechnik, welche Flagoletttöne besser in den Griff bekommen haben.
Wie sie wissen, verehrte Hörerinnen und Hörer, gehören zum Musizieren mindestens drei beteiligte Partner. Der Komponist, der seine Noten zu Papier bringt, der lnterpret, der sie aufgreift, und sie erklingen läßt und nicht zuletzt, und der wird meistens vergessen, der ist und bleibt der unbekannte Faktor, ein dunkle ungreifbare Menge mit ihren eigenen Gesetzen, der Zuhörer und oder die Zuhörerin. Was kommt von dem, was das Hirn und den Bauch des Komponisten bewegte, beim Hörer eigentlich an. Hat, was die nervösen Sensoren des Hörers reizt, und woraus er oder pardon sie sich jeweils ihren eigenen Reim macht, mit den lntentionen des Komponisten, mit dem Ausdruckswillen des lnterpreten überhaupt noch etwas gemein.

Prof.. Jaeggi:
Vorrede, sie wissen, ich verstehe nichts von Musik. Also ich bin eine höhere Tochter, die Klavierspielen gelernt hat. Miserabel, habs dann auch irgendwann aufgegeben. Das ist die Vorrede.

Oder sind die Bilder, die sich auf der quasi akustischen Projektionsleinwand des inneren Ohres der Hörerin zusammenfügen, mehr oder weniger durchmengt mit außermusikalischen Assoziationen, die sich um verpatzte Quintolen wenig scheren, von der Musik, die im Konzertsaal zur Aufführung gelangt, soweit entfernt, daß wir, wenn wir uns die Mühe machen und versuchen, den Gang dieser Assoziationen zu rekonstruieren, noch größere Mühe haben werden, von dort aus den Weg zur Musik, die dazu nur der Anlaß war, zurückzufinden?

Musik:
A Pierre
ca. 30 Sek.
(Unterblenden - ziemlich schnell raus)

Jedoch - bevor wir uns auf den Gegenstand selbst dieser Sendung konzentrieren, damit Sie sich nicht zu viel erwarten, ein paar einschränkende Vorbemerkungen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß es so viele Hörweisen gibt wie Hörer, und selbst ein und derselbe Hörer hört an einem Tag ein und die gleiche l,lusik so - und am andern fag ganz anders. Daß ein Arbeiter am Fließband andere Erwartungen und Hörgewohnheiten mit in den Konzertsaal bringt als ein promovierter Akademiker, berechtigt keineswegs zur Annahme, daß es letzterem entschieden leichter fiele, komplexe Klangstrukturen gerade der ze itge nössisc he n Musik mitdenkend nachzuvollziehen, oder einfach nur sensibler zuzuhören als seine Kollegen der niedrigeren Lohngruppen. Noch fataler wäre es, bestimmte musikalische lnhalte, was immer im einzelnen darunter zu verstehen ist, bestimmten sozialen Schichten
unserer Gesellschaft als ihnen gemäße, ihnen zugehörige zuzuwetsen. Wir müssen uns also jedem einzelnen Hörer, jeder einzelnen Hörerin zuwenden - um uns ein Bild davon zu machen, was wie und warum und in
welchen Zusammenhängen gehört wird. Ob die Ergebnisse, die wir hier nur essayistisch skizzieren können, repräsentativ sind für die gegenwärtige Hörerschaft ze itgenössische r Musik, wage ich nicht zu behaupten. Daß jedes einzelne Hörerportrait - das wir versuchen in lockerer Folge in diesem Sender für sie zu zeichnen - sich einen bestimmten Hörertypus annähert, ähnlich der Sammlung der Ohrenzeugen Elias Cannettis, von denen es nur eine begrenzte Anzahl gibt, das ist meine Vermutung. Und zwei solcher Ohrenzeugen möchte ich lhnen vorstellen: den beruflichen EMPF INDUNGSHÖRER und den empfindsamen BERUFSHÖRER - beide sind sie Liebhaber der Musik von Luigi Nono, vor allem von seinem Spätwerk.

Musik:
Nono
A Pierre
20 Sek. dann ziemlich schnell raus.

Jaeggi:
Es kommt auf den Versuch an.

Cast & Crew

Regie
Uli Aumüller
Drehbuch
Ulrich Holbein, Peter Sloterdijk, Wolfgang Rihm
Redakteur/in
Carolin Naujocks