75 Die Erfindung des Schweigens 03
Eine kleine Soziologie zum Verhalten des Publikums in der Oper von 1600 bis heute
Dass das Publikum im Opernhaus schweigt, sobald der Vorhang sich hebt, sobald der Dirigent seinen Taktstock hebt, ist heute allgemein üblich, war aber in der rund 400-jährigen Geschichte der Oper in Europa keineswegs von Anfang an so. Im Gegenteil – das Schweigen musste er erfunden werden und konnte sich erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts allgemein durchsetzen. Zuvor war die Oper nur ein Beiwerk für ein Publikum, das gewohnt war im Opernhaus zu schwatzen, zu flanieren, zu essen und trinken, sowie jeder Art von Geschäften nachzugehen. Uli Aumüller hat versucht, die ursprünglichen Verhaltensweisen zu rekonstruieren und nach den Gründen zu suchen, die zu den heutigen Standards führten.
In dritten Teil möchte ich ihnen die Geschichte des Schweigens erzählen. Die Geschichte des Schweigens in der Oper, von den Anfängen bis heute.
Wir stellen die Frage: Wie laut war es bei der Uraufführung von Bachs Johannes-Passion? Und wie ging es zu bei der Premiere von Mozarts Zauberflöte? .Wie beschreibt Casanova das Pariser Publikum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts?
Musik: Ouvertüre Orpheus Gluck
Das Freiburger Barockorchester spielte unter René Jacobs die Overtura zu Christoph Willibald Gluck L´Orfeo et Euridice.
200 Jahre lang – seit ihrer Geburtsstunde um das Jahr 1600 bis zur Jahrhundertwende vom 18. in das 19. Jahrhundert – ist in der Oper die Musik eine wichtige, aber nicht die entscheidende Sache eines vor allem sozialen und gesellschaftlichen Ereignisses. Man geht in das Opernhaus, um zu sehen und gesehen zu werden, es trifft sich dort die gesellschaftliche Elite einer Stadt, die hier ihren Geschäften nachgeht, sich präsentiert nach Rang und Namen – man geht in die Oper, um dort zu essen, zu trinken, sich mit Prostituierten einzulassen – die drei bis fünfstündigen pausenlosen Opernabende sind eher so etwas wie Clubabende mit gleichzeitiger Musikberieselung – die Aufmerksamkeit für das Geschehen auf der Bühne ist eher selektiv, interessiert sich am meisten für die Auftritte der Sängerstars, der Sopranistinnen, der Tenöre und Kastraten. In diesem Milieu gedeiht die opera seria, eine Opernform, in der ein Auftritt, eine Nummer nach der anderen wie eine Perlenkette aneinandergereiht sind – Arie – Rezitativ – Arie – Rezitativ – Zwischenspiel – Chorgesang – Rezitativ – Arie und so weiter. Eine komplexere musikalische Strukturierung, ein musik-dramaturgisch anspruchsvoller Aufbau, wie man sie in den frühen Monteverdi-Opern etwa findet, verbietet sich vor einem Publikum, das nur gelegentlich zuhört. Aufmerksamkeit erregen Starauftritte, dann aber werden die folgenden Stücke gerne einmal für eine halbe Stunde kaum nach wahrgenommen.. Diese Haltung ändert sich an der Wende zum 19. Jahrhundert langsam und in verschiedenen Regionen Europas in anderer Ausprägung – Das Schweigen in den Opernhäusern während der Vorstellung setzt sich erst in der zweiten Hälfte des 19ten Jahrhunderts durch – aber die Vorläufer dieses Wandels lassen sich in der Zeit der sogenannten Empfindsamkeit, des Sturm und Drang, also ca. ab 1770 nachweisen.
Die Bedeutung der Musik, und zwar zuerst der Instrumentalmusik ändert sich – sie ist nicht mehr wie im Barock Teil einer rhetorischen Technik, der Affektenlehre – sondern sie ist Ausdruck der Empfindungen, der Seele des Komponisten oder Interpreten, sie ist dessen klingendes Innerstes – Musik ist nicht mehr das Mittel, das die Sprache, den Text der Sänger unterstützt und ausziert, sondern sie wird zu dem Medium einer Sprache jenseits der Sprache, zur ahndungsvollen Artikulation transzendenter Erfahrungen. Musik – und zwar zuerst die Instrumentalmusik – wird zu einer Ersatzreligion, das Musikhören zu einer Form des Gebets. Wenn der Bach-Vater Johann Sebastian noch gelebt hätte, als sein Sohn Carl Philipp Emanuel die Clavier-Fantasie mit dem Titel „Die Empfindungen des Carl Philipp Emanuel Bach“ komponierte, er hätte ihn gefragt: Mein lieber Sohn, wen glaubst Du interessieren denn Deine Empfindungen? Ist es nicht viel eher unsere Aufgabe, in aller Bescheidenheit, mit unserem Geist und unserem Fleiß Gott in der Höhe zu loben und zu preisen, so gut wie wir es vermögen? – Bach-Vater wäre erstaunt gewesen, hätte er erfahren, welche Verehrung ihm, ihm persönlich, rund einhundert Jahre später zuteilwürde – und dass man seiner Musik so andächtig lauscht, als offenbare sich in ihr leibhaftig die Herrlichkeit Gottes.
Manuskript zur Sendung
Gespräche mit Sven Oliver Müller
Exposé für den geplanten Film
Handschriftliches Drehbuch für den geplanten Film
Kritik Süddeutsche Zeitung
Diese Produktion kann als CD zum Preis von 12,80 € bei der inpetto filmproduktion bestellt werden. Bitte schreiben Sie eine mail an: bestellungen@inpetto-filmproduktion.de
Cast & Crew
- Regie
- Uli Aumüller (Text)
- Drehbuch
- Sven Oliver Müller
- Redakteur/in
- Bettina Winkler