Das Vermächtnis der Epensänger

1. DAS VERMÄCHTNIS DER EPENSÄNGER
- Auf Homers Spuren im 20. Jahrhundert

Königreich Jugoslawien, Montenegro, 1933. In dem Marktflecken Bijelo Polje lebt der muslimische Dorfschlachter und Kleinbauer Avdo Medjedovic. Der Rest der Welt hätte von dem alten Mann in den Bergen wohl nie Notiz genommen, wäre nicht in diesem Dorf eines Tages Milman Parry aufgetaucht, beseelt von der Idee durch die Erforschung der Epensänger-Traditionen dieser Region Homers Geheimnis zu lüften.
Professor Parry kommt aus Amerika, von der Harvard University, mit zwei Aluminium-Schallplatten-Phonographen im Gepäck seines Ford V-8, die es ihm erlauben, auch mehrstündige Gesänge in das weiche Metall zu ritzen. Nach zwei Jahren abenteuerlicher Feldforschung erfüllt sich seine Vision. Avdo Medjedovic, Analphabet wie die meisten anderen Epensänger dieser Gegend auch - Muslime und Christen, Serben, Bosnier und Albaner - trägt ihm Heldenlieder vor, die auf 13.000 Verse kommen, begleitet auf seiner einsaitigen Kniegeige, der Gusle. Nicht nur die Länge der Epen, auch ihre Themen und Formeln beschwören Erinnerungen an die Illias und Odyssee herauf.
Das Besondere: Diese Epen werden nicht nach einer existierenden Vorlage auswendig gelernt, sondern im Augenblick des Vortrags ad hoc gedichtet, komponiert! Milman Parry will verstehen, wie so etwas funktionieren kann. Er macht Experimente: Avdo Medjedovic soll ein Epos, das er noch nicht kannte und von einem „Kollegen“ nur ein einziges Mal zu hören bekommt, Wort für Wort nachsingen. Seine neue Fassung, die Parry mit seinem Phonographen dokumentiert, ist gut um die Hälfte länger als das Vorbild! Kein Element fehlt - aber was dazugekommen ist, hat das Gedicht wahrlich „homerisch“ veredelt.
Als Milman Parry 1935 in die USA zurückkehrt, hat er über 12.000 Epen und Volkslieder gesammelt, die bespielten Schallplatten wiegen Tonnen. Kurz darauf kommt Parry 33-jährig ums Leben - ein Schuss löst sich aus der Pistole, die er zu seiner Sicherheit auf seinen Expeditionen mitgeführt hatte.
Parrys Assistent Albert Lord übernimmt die Aufarbeitung der Sammlung, u.a. arbeitet Bela Bartok an den Transkriptionen der Tondokumente. 1960 erscheint The Singer of Tales - Milman Parrys und Albert Lords fundierte Darstellung mündlich überlieferter Poesie. Sie kommen zu dem Schluss, dass Homer (wie auch Avdo Medjedovic) ein oraler Meisterdichter seiner Zeit war und nicht etwa der Urvater aller Schriftsteller. Ein Schock für das schriftfixierte Selbstverständnis des Abendlandes.
Die Dichter waren einst das mythische Gedächtnis einer bäuerlich geprägten Kultur. Doch tatsächlich sind es Schrift- und Druckerzeugnisse, die jugoslawischen Traditionen ein neues hässliches, fanatisch verzerrtes Antlitz verleihen. Nicht erst seit gestern werden dort Epen in nationalistisch-religiösen und ethnischen Grabenkämpfen missbraucht. Auch Radovan Karadzic, der Kriegsverbrecher, Psychiater … und Dichter berief sich auf serbisch-orthodoxe Heldenmythen, um die Ausrottung der bosnisch-muslimischen Kultur zu betreiben.

Die Milman Parry Collection of Oral Literature umfasst –zusätzlich zu den Tonaufnahmen- unzählige Transkriptionen, Interviews, Fotos, Forschungs-Gegenstände und –Berichte, darunter ein Feld-Tagebuch Milman Parrys. Filmische Dokumente sind spärlich. Der albanische Autor Ismail Kadaré nahm Parrys Forschungen zum Vorbild seines Romans Dosja H (engl. The File on H.). Diese Materialien wären Grundlage für eine teils dokumentarische, teils fiktionale Rekonstruktion der Parry-Expedition in das Jugoslawien der 30er Jahre.


2. HOMERS HYPERTEXT
- Die parallele Welt oraler Poesie
Milman Parrys und Albert Lords bahnbrechende Feldforschungen in serbokroatischen Epensänger-Traditionen sollten die zweieinhalbtausend Jahre alte Homerfrage beantworten: Wie sind Ilias und Odyssee entstanden und wer genau war ihr Schöpfer? Doch trotz der fundierten Argumentation der Parry-Schule geht der Streit der Philologen über des mythischen Dichters Schriftkundigkeit weiter, schließlich steht für manche das eigene Weltbild auf dem Spiel.
Doch Lords The Singer of Tales löst auch weltweit Studien oraler Traditionen aus und hat seinen Anteil am Folk-Revival der 50er und 60er Jahre, dem Vorläufer der World-Music-Welle. Ob mittelalterliches Epos, afrikanische Griots, finnische Balladen oder zentralasiatische Heldenlieder, das Interesse an mündlich überlieferter Poesie dringt in alle Traditions-Winkel der Welt vor. Selbst in Europa, in Albanien und im Kosovo, gibt es epischen Gesang noch in seiner authentischen oralen Form, wenn auch durch den Krieg schwer dezimiert. Mythos ohne Zukunft?
Die Homerfrage, wenn es Homer selbst wäre, der fragen könnte, würde der herrschenden Schriftkultur den Spiegel vorhalten, und das Bild darin wäre dem Kolonialismus ähnlich.

3. A CYBERSPACE ODYSSEY?
– Das Gedächtnis und das Meer der Medien

Milman Parrys Geschichte findet bei Anbruch des Medienzeitalters statt. Während er die Stimmen der Epensänger auf Aluminium bannt, marschieren die Nazis im Propagandaschritt und in Marseille wird das Attentat auf Jugoslawiens Alexander I. gefilmt, die Kino-Premiere eines Königsmordes.
Marshall McLuhan, Prophet des global village, versteht seinen Bestseller The Gutenberg Galaxy als Ergänzung zu The Singer of Tales. Die Welt der Schrift und der Druckerzeugnisse geht zu Ende, die Gutenberg-Galaxis kollabiert. Im Netz des Cyberspace entsteht eine sekundäre Oralität.
Platon wiederum lässt Sokrates über das neue Medium Schrift wettern: „Diese Fertigkeit wird die Seelen vergesslich machen, weil sie sich nicht mehr im Nachsinnen üben werden. (...) Von außen her, dank fremder Zeichen, werden Dinge in ihr Gedächnis gerufen werden, nicht aus eigenem werden sie sich erinnern.“ Als stünde er vor einem PC.
Das Kulturwesen Mensch wird aus Sprache, Zeichen und Gedächtnis geboren. Die Art, wie diese gespeichert und weitergegeben werden, verändert die Inhalte, die Form, das Denken, die Machtverhältnisse, und so wiederum Sprache, Zeichen und Gedächtnis.
Die letzte Fahrt des Odysseus durch das Meer der Medien.

Manuskript zur Sendung

Musikliste

Cast & Crew

Regie
Uli Aumüller
Drehbuch
René Pandis
Erzähler
Christian Gaul, Wolfgang Condrus
Redakteur/in
Frank Kämpfer